Ursula Wölfel
Ursula Wölfel ist am 23. Juli 2014 im 92. Lebensjahr
nach kurzer schwerer Krankheit gestorben.
Ursula Wölfel wurde am 16. September 1922 als jüngstes von vier Kindern in der Ruhrgebietsstadt Hamborn geboren. Der Vater Karl Koethke war Dirigent und Leiter des Orchesters der damals reichen Schwerindustriestadt Hamborn, die 1929 nach Duisburg eingemeindet wurde.
Die Mutter Luise, geborene Herschel, war Lehrerin für mittlere und höhere Mädchenschulen. Wie damals üblich gab sie den Beruf nach der Heirat auf.
Die Eltern hatten ein privates Musik-Konservatorium, das sie jedoch in der Notzeit nach dem ersten Weltkrieg schließen mussten.
Die Eltern Mit den Geschwistern
Ursula Wölfel: „Ich war das jüngste von vier Kindern, und zwar ein spät nachgekommenes jüngstes. Dadurch hatte ich alle Vorteile, die ein Einzelkind hat, denn ich wurde sehr verwöhnt. Zugleich hatte ich den Vorteil, sehr anregende Geschwister zu haben, die mir zum Beispiel schon sehr früh das Lesen beigebracht haben, weil sie keine Lust hatten, mir ständig vorzulesen, wenn ich gequengelt habe. Weil meine Geschwister so viel älter waren als ich, bin ich viel allein gewesen. Meine Eltern waren auch relativ alt, als ich geboren wurde, sie waren beide schon vierzig. Der Vater war Dirigent und Musiker und hatte wenig Zeit, die Mutter musste ihm viel helfen. Und so habe ich meine ganze Kindheit auf der Straße und in Schrebergärten verbracht. Ich war, eigentlich den ganzen Tag unterwegs, nur bei Dunkelheit musste ich zu Hause sein.
Geschrieben habe ich schon als Kind. Ich habe mit zehn Jahren mein erstes selbst geschriebenes Theaterstück mit der Klasse aufgeführt. Das lag auch ein bisschen in der Familie. Unsere Mutter war eine sehr phantasievolle Frau, die wunderbar erzählen konnte und viel Verständnis hatte für Spiele und für alles, was außer der Reihe getan wurde. Dass ich überhaupt schreibe, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ich gern erzähle und das, was ich erlebt habe, in Wörter umsetze. Das ist durchaus ein Vergnügen, das ich mir selbst bereite.“
(aus einem Interview)
1943 1952
Ursula Wölfel studierte in Heidelberg Germanistik, Geschichte, Philosophie und Psychologie. 1943 heiratete sie den Architekten Heinrich Wölfel, ein Jahr später kam ihre Tochter Bettina auf die Welt. Ihr Mann starb 1945 in Kriegsgefangenschaft.
Nach dem Krieg arbeitete sie als Schulhelferin. Anschließend machte sie eine Ausbildung zur Grundschullehrerin und war Assistentin am Pädagogischen Institut Jugenheim an der Bergstrasse. Von 1951-54 studierte sie an der Universität Frankfurt Germanistik, Kunstgeschichte und Pädagogik. Von 1955-58 unterrichtete sie als Sonderschullehrerin in Darmstadt und war in den frühen 60ziger Jahren akademische Mitarbeiterin von Prof. Dr. Klaus Doderer in der Aufbauphase des Institutes für Jugendbuchforschung.
1959 erschien ihr erstes Kinderbuch: „Der rote Rächer und die glücklichen Kinder“, im gleichen Jahr das zweite: „Fliegender Stern“, beide im Hoch-Verlag.
Ursula Wölfel: „Ich habe damals als Sonderschullehrerin gearbeitet, hatte aber schon länger ans Schreiben gedacht. Eine befreundete Buchhändlerin wusste davon und sagte, ich solle es doch probieren. Sie kenne einen Verleger. In sechs Wochen sei Buchmesse, da müsse das Manuskript fertig sein, damit sie es ihm zeigen könne.
Sechs Wochen vor der Buchmesse fing ich also an zu schreiben. Ich habe Tag und Nacht gearbeitet, mit einem unwahrscheinlichen Engagement. Nie wieder habe ich so begeistert geschrieben. An lustigen Stellen habe ich laut gelacht und an rührenden heiße Tränen geweint. Ich bin vollkommen eingetaucht. Sonst hätte ich das auch nie so schnell schaffen können. Das Manuskript war nach sechs Wochen fix und fertig und sauber getippt, sprachlich allerdings schlecht. Ich habe es noch mindestens fünfmal überarbeitet. Aber das war der Anfang.“
(aus einem Interview)
1962
In der folgenden Zeit erschien jedes Jahr ein neues Buch. Für ihr viertes, „Feuerschuh und Windsandale“ erhielt sie 1962 den Deutschen Jugendbuchpreis in der Kategorie Kinderbuch.
Seither ist sie freiberufliche Schriftstellerin.
1972 wurde sie Mitglied im PEN.
Ihre Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt.
Sie lebt im Odenwald und in Heidelberg.
Schon mit dem 1962 erschienen Jugendroman „Mond, Mond, Mond“ schlug Ursula Wölfel ein Thema an, dem sie 1970 in „Die grauen und die grünen Felder“ am konsequentesten literarische Form geben wird. In „Mond, Mond, Mond“ erzählt sie eine poetische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Verfolgung der Sinti und Roma in der Nazizeit. In „Die grauen und die grünen Felder“ wird in vierzehn Kurzgeschichten eine realistische, konfliktreiche Welt dargestellt, eine Welt, „die nicht immer gut ist, aber veränderbar.“
Ursula Wölfel: „Keines meiner anderen Kinderbücher war mir von Anfang an so wichtig wie dieses. 1968 hatte ich etwa zehn Kinderbücher und längere Bilderbuchtexte geschrieben, dazu eine Fibel, ungezählte Lesebuchtexte und schon mehr als fünfzig hemmungslos phantasierte„ Suppen"- und „Lachgeschichten". Jetzt wollte ich auch wahre Kindheitserlebnisse erzählen und bat im Freundeskreis um Berichte aus der Kinderzeit, Erinnerungen, die den jetzt erwachsenen Frauen und Männern wichtig seien. Ich erwartete viel Spaßiges, auch Nachdenkliches und Interessantes über Kindheiten vor vierzig bis sechzig Jahren. Auch sehnsüchtig verklärende Rückblicke würden dabei sein, dachte ich. Aber es kam ganz Unerwartetes: Was mir - meist mündlich, weniges auch in Briefen - erzählt wurde, war ohne Ausnahme tiefernste frühe Lebenserfahrung. (…)
Dazu bekam ich gerade jetzt bewegende Berichte von einer Freundin, die als Entwicklungshelferin in Afrika (und später in Südamerika) arbeitete, dazu auch Auskünfte aus dem Oberhausener Friedensdorf über Kinder, die im Vietnamkrieg schwer verwundet worden waren.
Durfte ich all das Kindern erzählen? Gewiss. Denn all das Schlimme hatten Kinder erlebt.
Meine Texte fanden wie von selbst ihre Form: den lakonischen Bericht, der Abstand hielt und Gefühligkeit verbot. Wo Trost gebraucht wurde, versprach ihn das offene Ende der Kurzgeschichten. Es verleugnet nicht, was geschah, und öffnet doch einen Spalt breit die Tür für andere, glücklichere Möglichkeiten.“
Prof. Dr. Malte Dahrendorf: 1970 erschienen „Die grauen und die grünen Felder", eines der wichtigsten Kinder- (oder Jugend-?) Bücher der Nachkriegszeit, (…) ein schmales, nicht einmal hundertseitiges Bändchen mit 14 Geschichten über eine unheile Welt, eine brausende Öffnung der Kinder- und Jugendliteratur zu Sozialkritik, Problembezug, Konfliktdarstellung; fast alle Tabus der bisherigen Kinderliteratur gingen hier in einem einzigen Anlauf zu Bruch. Zugleich gab das Buch thematisch die Stichworte für die emanzipatorisch-problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur der 70erJahre: Vorurteile und Minderheiten, Rassismus, neue Formen des Zusammenlebens und der Familie, soziale Benachteiligung. Wölfel wagt es hier, die innere und äußere Offenheit der Kurzgeschichte in die Kinderliteratur einzuführen.
(aus: Laudatio zum Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises 1991)
Neben „Fliegender Stern“, ein Text, der seit 50 Jahren zu einer sehr beliebten Schullektüre geworden ist, sind von Ursula Wölfels Werken sicher die „Siebenundzwanzig Suppengeschichten“ und „Achtundzwanzig Lachgeschichten“ am bekanntesten. Jede dieser Geschichten ist nie länger als eine Seite. Ein ganzseitiges Bild gegenüber läd ein, über die Geschichte zu sprechen und neue Erzählfäden zu spinnen. Zuerst 1968 und 1969 erschienen, haben sich diese Bücher in vielen Familien von den Kindern auf die Kindeskinder als Vorlesegeschichten vererbt, die auch zum ersten Selbstlesen anregen.
Prof. Dr. Malte Dahrendorf: Ursula Wölfel gelingen hier in einer schmucklosen und gerade deshalb der Phantasie Raum gebenden Prosa Kabinettstückchen, die zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, Schlichtheit und Hintersinnigkeit, Unterhaltsamkeit und Kunstmiteinander zu verbinden.
Zu ihren wichtigsten Werken zählt Ursula Wölfel selbst die beiden historischen Romane, die sich gleichermaßen an Jugendliche wie an Erwachsene wenden.
In „Jacob, der ein Kartoffelbergwerk träumte“ (1980; neue, überarbeitete Ausgabe 2002 unter dem Titel „Jacob unterwegs“) nimmt sie die Lebensgeschichte ihres Urgroßvaters als Erzählanlass, um die politischen und sozialen Bewegungen des frühen 19.Jahrhunderts bis hin zur Revolution 1848 darzustellen.
1991 erschien „Ein Haus für alle“. Erzählt wird die Geschichte eines Freundes- und Familienkreises in der Zeit des Nationalsozialismus, in der Bedrohung durch Verfolgung, Euthanasie und Krieg.
(in der FAZ, 22.02.1992)
Ursula Wölfels Bücher gehören zur realistischen Kinder- und Jugendliteratur, aber sie bilden die Wirklichkeit nicht einfach ab. Auch wenn sie nie Anleihe bei Zauberern, Hexen, Feen oder Helden nimmt, so ermuntert sie ihre Leser doch immer wieder, nach eigenen und neuen möglichen Bildern dieser Welt zu suchen.
In ihren poetischen Texten oder kurios-komischen Episoden, wie etwa den „Neunundzwanzig verrückten Geschichten“, lässt sie der Phantasie freien Lauf und spielt mit dem Absurden. Sie erzählt vom doppelten Boden dieser Wirklichkeit und davon, dass sich im Gelächter oder bisweilen auch nur in einem Lächeln verborgene Möglichkeiten zeigen. Sie spielt mit der Bedeutungsvielfalt von Wörtern und Bildern und ermutigt zu einem „zweiten Blick“ auf all das um uns her, das auch anders sein könnte.
Mit ihren Texten möchte Ursula Wölfel den Lesern zu mehr Selbst- und Weltverständnis verhelfen, dazu die eigene Sprache zu finden, um so in ihrem Leben heimisch werden zu können.
Ursula Wölfel: Viele Kinder haben keine Sprache für ihre Fragen, ihre Empfindungen und ihre Gedanken über allen Ernst ihres Lebens. Und weil Eltern die Bücher ihrer Kinder manchmal mitlesen, könnte vielleicht so ein versäumtes Gespräch angeregt werden.
Das Kinderbuch braucht keine fertigen Antworten zu geben. Die würden ja die individuelle Situation doch nicht treffen und unter Umständen nur neue Vorurteile provozieren.
Kinder leben auf Zukunft hin, sie brauchen viel Hoffnung. Wenn schon in ihrer Realität so vieles ohne gutes Ende bleibt, möchten sie sich gern versichern lassen, dass es irgendwann doch einmal gewiss ist. Die Kinder sollen es aber nicht als wunderbare Fügung passiv erwarten. In realistischen Texten kann ihnen auch der offene Schluss ein gutes Ende bedeuten, wenn er auf Lösungsmöglichkeiten hinweist, die von den Kindern selbst gefunden werden können. So werden sie zu aktiven Lesern, sie lernen denken, und sie stoßen ohne Zwang auf die Erfahrung, dass es im Bereich des Menschlichen keine starren, determinierenden Abläufe gibt.
Prof. Dr. Malte Dahrendorf: Ursula Wölfel wendet sich in ihren Büchern an Kinder, die neugierig sind und gern Fragen stellen, die wissen möchten, wie man auf dieser Erde menschlich leben kann, die die Dinge nicht so hinnehmen mögen wie sie sind, die sich aber auch, trotz illusionsloser Einschätzung der Realitäten, nicht allen Optimismus austreiben lassen möchten, etwas tun zu können. Ursula Wölfel glaubt an den Menschen. Es besteht die leise Hoffnung, dass - indem sie sich in dieser Einstellung ihren Leserinnen und Lesern zuwendet - diese Fähigkeiten, und sei es nur ein wenig, gefördert werden.
Auszeichnungen
1962 Deutscher Jugendbuchpreis, Sparte Kinderbuch für „Feuerschuh und Windsandale“;
1972 Österreichischer Förderpreis für Jugendliteratur für „Die grauen und die grünen Felder“;
1991 Sonderpreis zum Deutschen Jugendliteraturpreis für das Gesamtwerk;
1992 Buxtehuder Bulle für „Ein Haus für alle“;
1993 Katholischer Kinderbuchpreis, Empfehlungsliste, für "Ein Haus für alle";
1998 Focusliste "Die besten 7 Bücher", für "Morgenkind";
Ihre Bücher standen achtmal auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis, dreimal auf der Ehrenliste zum Hans-Christian-Andersen-Preis.
2018